Calwer Jahrtag auf der Wurmlinger Kapelle

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Der Calwer Jahrtag

Berühmt wurde die Wurmlinger Kapelle nicht erst durch Ludwig Uhlands Gedicht von 1805. Schon in den Jahrhunderten davor hatte ein jährlich wiederkehrendes Ereignis, der sogenannte Calwer Jahrtag, sowohl die Anteilnahme des Volkes als auch die Aufmerksamkeit der Geschichtsinteressierten erregt. Calwer Jahrtag, Gründungssage und Stiftergrab aber gehören untrennbar zusammen.

Der Jahrtag, diese „seit unvordenklichen Zeiten“ in und um die Kapelle abgehaltene Feier, und sein geschichtlicher Hintergrund beschäftigte seit dem 16. Jahrhundert Historiker und Volkskundler wie M. Crusius, Chr. Lutz v. Lutzenhardt, L. Uhland, E. Meier, A. Birlinger, E. Gradmann, H. Janichen u. a. Ausgangspunkt ist die Gründungssage, die hier in der von E. Meier 1852 veröffentlichten Fassung wiedergegeben wird: „Der Graf Anselm von Kalw hatte verordnet, dass man ihn, sobald er gestorben, in seinem Sarge von zwei ‚ungewohnten Ochsen‘, die noch nie einen Wagen gezogen, sollte fortfahren und zwar ohne einen Führer. Wo die Ochsen dann stillstünden, da solle man eine Kapelle bauen und alljährlich den Stiftungstag durch eine heilige Messe und durch ein großes Festessen, das er selbst genau vorgeschrieben hatte, feiern. (Dieser Jahrtag sollte stets am Dienstag nach Allerseelentag begangen werden, wurde aber später immer am Dienstag nach der großen Kirchweih abgehalten.) Der letzte Wille des Grafen wurde genau vollführt. Zwei frische Ochsen fuhren allein mit seiner Leiche von Kalw ab und standen erst auf dem jetzigen Remigiusberge bei Wurmlingen still. Da wurde dann dem hl. Remigius die Kapelle erbaut …“

Die Gründungssage versucht zu erklären, wie die Kirche auf den Berg kam und aus welchen Gründen ein „Graf Anselm von Calw“ sie stiftete. Das nach damaligem Wissensstand Unerklärbare wird über das Tiermotiv direkt auf den Willen Gottes zurückgeführt – die Sage von der Gründung der Wurmlinger Kapelle gehört in die große Gruppe der Sagen von Tier-Orakeln, mit deren Hilfe der Platz eines Heiligtums festgelegt wird . Eine vergleichbare Sage z. B. berichtet von der Entstehung der St. Morizkirche in Rottenburg-Ehingen. Gleichzeitig macht die Sage deutlich, dass ein Begräbnis des Stifters auf dem Berg angenommen wurde.

Die historisch zutreffende Deutung ergibt sich, wenn man die Sage mit dem sogenannten „Calwer Jahrtag“ in Beziehung setzt, dessen Ablauf in drei Urkunden von 1348, 1486 und 1530 sehr genau beschrieben ist, wenngleich auch die eigentliche Stiftungsurkunde bereits 1348 nicht mehr vorhanden war. Wie die von altersher tradierte Bezeichnung der Feier als „Jahrtag“ erkennen lässt, handelt es sich im Kern um das Totengedenken im Meßopfer zum Seelenheil des Stifters. Dieser Kern ist seit der Jahrtagsstiftung im Hochmittelalter bis zum heutigen Tag unverändert geblieben. Aber nicht dieses Jahrtagsgottesdienstes wegen hat die Feier seit dem 16. Jahrhundert die Aufmerksamkeit der Gelehrten erregt, sondern wegen des damit bis zur Reformationszeit verbunden gewesenen Mahles für die an der Jahrtagsfeier teilnehmenden Priester und deren Begleiter.

Zur Teilnahme verpflichtet waren die Pfarrer des damaligen Landkapitels Tübingen-Rottenburg, denen für ihre Anwesenheit zusätzlich zum Mahl Präsenz-Gelder ausbezahlt wurden. Die „armen Leute“ der Umgebung erhielten die Reste der Mahlzeit, dazu ein Almosen. Auf diese Weise sorgten quasi auch die Armen dafür, dass die Jahrtagsfeier stets pünktlich begangen wurde, die durch die Teilnahme eben dieser Armen stets auch eine soziale Einrichtung war. Martin Crusius, Professor der griechischen und lateinischen Sprache im benachbarten Tübingen, beschrieb Ende des 16. Jahrhunderts noch einmal das Mahl, nach dem ihm „schon offt das Maul gewassert“ habe.

Kein Wunder, denn es war in seiner Ausgestaltung immer üppiger geworden – Höhepunkt war eine gebratene Gans, in der ein gebratenes Hühnchen steckte, das seinerseits mit einer Bratwurst gefüllt war; dazu musste dreierlei Brot und drei verschiedene Sorten Wein gereicht werden. Alle Berichte schildern ausführlich die Vorbereitungen, die Zutaten, die Entlohnung für das mit der Zubereitung beschäftigte Personal. Dieser ganze Aufwand hatte sich aber von der ursprünglichen religiösen Intention der Jahrtagsfeier derart weit entfernt, dass Ludwig Uhland 1873 mit Recht feststellen konnte: „Das Stiftungsmahl auf dem Berge Wurmlingen macht überhaupt weniger den Eindruck einer christlichen Feier, als den eines heidnischen Opfers.“ Bereits vor 1566 wurde das Stiftungsmahl letztmals in seiner alten, seit 1348 dokumentierten Form abgehalten. Von da an erhielten die teilnehmenden Kleriker nur noch das im Lauf der Zeit immer mehr reduzierte Präsenzgeld.

Zur Zeit wird der Jahrtag im Juli in Form eines Gedenkgottesdienstes für den Stifter und eines daran anschliessenden Lobamts abgehalten. Zelebranten sind Dekan und Kamerer des Landkapitels Rottenburg sowie die Pfarrer von Wurmlingen und einigen anderen Orten des Dekanats.

Nicht ganz einfach ist die Frage nach dem Stifter des Jahrtags zu beantworten, denn den erstmals in der Urkunde von 1486 als Stifter genannten „Graf Anselm von Calw“ gab es nicht! Es ist schon eigenartig, das der wirkliche Jahrtagsstifter und sein Todesjahr, also der Zeitpunkt der Stiftung, so früh in Vergessenheit geraten konnte, wo es doch geradezu Zweck der Stiftung war, das Gedenken an die Person des Stifters wachzuhalten! Die Forschungen der vergangenen Jahrzehnte konnten überzeugend nachweisen, dass der Stifter, der vor 1100, vielleicht sogar vor 1050 lebte, zum Familienkreis der Grafen v. Calw gehört haben muss.

Bei den urkundlich bezeugten Calwem gibt es den Voramen Anselm zwar nicht, wohl aber bei deren durch Gedenkbücher (Nekrologien usw.) erfassbaren Vorfahrengruppen. „Anselm braucht nicht unbedingt dem Calwer Mannesstamm anzugehören. Vielleicht hat eine Erbtochter anderen Geschlechts, die Güter und die Jahrtagsverpflichtung für einen Ahnen Anselm mitbrachte, in den Calwer Stamm eingeheiratet“ (H. Janichen). Die letzten Herren, Angehörige einer Nebenlinie des Calwer Grafengeschlechts, mittlerweile ganz in den Stand von Dienstmannen abgesunken, saßen rund 150 Jahre in Wurmlingen und Pfäffingen, bis sie kurz nach 1346 wieder aus der Gegend verschwanden. Die letzten Urkunden über sie betreffen Verkäufe von Grundbesitz. So verkauften z. B. Angehörige des Geschlechts 1299 mit drei und 1302 mit einer weiteren Urkunde Grundstücke in der Umgebung des Wurmlinger Bergs an den Abt von Kreuzlingen.

Nicht ganz zufällig also wurde 1348, zwei Jahre nach dem Verschwinden des Geschlechts, der Wurmlinger Jahrtag für einen „Herren von Calw“ erneuert und sein ordnungsgemässer, dem alten Herkommen entsprechender Ablauf in einer Urkunde niedergeschrieben. Das jährlich wiederkehrende Gedenken an den Stifter wird demnach mit Fug und Recht „Calwer Jahrtag“ genannt.

Fester Bestandteil der Jahrtagsfeier war neben Seelamt und Mahl auch die Seelvesper „heraufsen by des Stiffters des Grafen Grab“ (Lutz v. Lutzenhardt, 1608), d.h. in der Krypta, die seit der Vergrösserung der Kirche in der Zeit der Gotik nur noch von aussen zugänglich war. Wer mehr wissen möchte, findet hier weitere Infos.

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