Missbrauch und kein Ende: Die Aufarbeitung kommt nur schleppend voran

Jüngst erschüttert eine nicht gekannte Austrittswelle das Erzbistum Köln. Schlange stehen vor dem Amtsgericht. Nun ist das lang erwartete Gutachten zum Missbrauch im Erzbistum Köln endlich veröffentlicht. Darin: Schwere Versäumnisse innerhalb des Führungsstabs des Erzbistums. Gesonderte Ablagen in einem Archiv mit dem kuriosen Namen „Brüder im Nebel“ unter dem damaligen Kardinal Meisner. Nun ist das Erzbistum Köln aber auch Vorreiter was unabhängige Studien angeht. Unsere Diözese ist noch nicht soweit. Deshalb die Frage: wo stehen wir heute in unsere Diözese? In der evangelischen Kirche, wo es kein Pflichtzölibat gibt, kommt die Aufarbeitung von Missbrauch ebenfalls nur schleppend voran.

Von Rainer Degen

Das Kölner Missbrauchsgutachten

Das Erzbistum Köln ist mit 1,9 Millionen Mitgliedern die größte Diözese Deutschlands. Das Erzbistum hat ca. 22.000 Mitarbeiter. Besonders bekannte Erzbischöfe der jüngeren Vergangenheit waren die Kardinäle Josef Höffner und Joachim Meisner. Der aktuelle Kardinal ist Rainer Maria Woelki.
Kardinal Woekli hat bei der Aufklärung keine gute Figur gemacht. Das fing schon damit an, dass er das erste Gutachten zurückgehalten hat. Das Misstrauen war gesät und der Vertrauensverlust war da. Kardinal Woekli galt als der größte Vertuscher in der Affäre. Die Schlangen vor dem Amtsgericht, um aus der Kirche auszutreten, sprechen eine klare Sprache. In Interviews von Austrittswilligen vor dem Amtsgericht konnte man sehen, wie schwer es manchem fiel, seine Kirche zu verlassen.

Das Ergebnis der aktuellen Studie

Insgesamt untersuchten die Gutachter 236 Vorgänge aus dem Zeitraum von 1975 bis 2018. Dabei stellt man 75 Pflichtverletzungen fest. Mehr als die Hälfte der Opfer soll unter 14 Jahren gewesen sein. Insgesamt liegt bei ca. der Hälfte sexueller Missbrauch unterschiedlicher Schwere vor. Zu den Pflichtverletzungen zählten die Gutachter u.a. Verletzungen der Aufsichtspflicht sowie Verstöße in der Opferfürsorge.

Die große Schwäche der Studien

Sowohl der groß angelegten Studie „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“, bekannt unter dem Kürzel „MHG Studie“, aus dem Jahr 2018 (wir berichteten darüber) als auch die aktuelle Kölner Studie lag ein von Seiten der Kirchenführung vorselektierter Umfang zu Grunde. Das heißt: wir haben nur einen Extrakt von wahrscheinlich einer größeren Menge an Missbräuchen. Manche reden hier von der Spitze des Eisbergs. Man wird sehen.

Kardinal Woekli gewinnt wieder Land

Auch wenn es bisweilen dem einen oder anderen schwer fällt: Kardinal Woelki steht zu dem, was er gesagt hat. In seiner Predigt im September 2018 sagte er: „Ich will nicht zum Mittäter werden, durch Wegsehen, Vertuschen oder Bagatellisieren.“ Und weiter: „… und wir müssen allen diesen Menschen versprechen, alles zu tun, damit das nicht wieder vorkommt.“ Missbrauch wurde in den Bistümern systematisch vertuscht und Pflichtverletzungen wurden etwa durch Versetzungen „behoben“. Das Verdienst von Kardinal Woelki ist, dass das jetzt nicht mehr funktioniert. Es gehe um das erste Gutachten dieser Art, in dem ungeschwärzt auch die Namen von Verantwortlichen genannt würden, sagte der Beauftragte Strafrechtler Björn Gercke bei der Veröffentlichung. Rücktritte wurden in der Folge angeboten. Freiwillig? Wohl nicht ganz. So haben sowohl Kardinal Heße als auch Weihbischof Schwaderlapp bis zuletzt versucht, gegen die Veröffentlichung vorzugehen. Aber dass Kardinal Woelki sie fallen würde, hätte bis vor kurzem niemand geglaubt. Und siehe da: es kehrt zumindest etwas Ruhe ein. Und die Gutachter haben bei Kardinal Woelki kein Pflichtvergehen festgestellt. Wohl gemerkt in der untersuchten Grundmenge von Vorgängen. Trotzdem.

„Brüder im Nebel“

Das hört sich nun wirklich ein wenig nach „Der Name der Rose“ an. Das ist düster und obskur. Kardinal Meisner hatte wohl explosive Fälle aus dem offenen Archiv entfernt und in einer eigenen Ablage mit dem Namen „Brüder im Nebel“ untergebracht. Allein schon der Begriff „Brüder im Nebel“ verharmlost die wahrscheinlichen Verbrechen dahinter.

Auch die Evangelische Kirche tut sich mit der Aufarbeitung von Missbrauch schwer

Die Zeitung „Die Welt“ berichtete am 8.3.2021 in einem Artikel über den Stand der Aufarbeitung von Missbrauch in der evangelischen Kirche und das am Beispiel des Lebens von Detlev Zander. Er war vier, als es mit den Vergewaltigungen begann. Er sagt: „Zuerst habe ich gar nicht kapiert, was die mit mir machen.“ Und weiter: „Bis ich 14 war, gab es täglich mehrere Vergewaltigungen oder Prügel. Wenn ich heute darüber nachdenke, frage ich mich, wie ich das überlebt habe.“
Detlev Zander ist 59 Jahre alt, arbeitet als Krankenpfleger und ist Mitglied im Betroffenenbeirat der EKD (Evangelische Kirche Deutschland). Er machte 2014 die Vergehen, die in den Kinderheimen der Brüdergemeinde in Korntal in Baden-Württemberg geschahen, öffentlich. Er wurde zuerst als Lügner hingestellt, doch dann tauchten immer mehr ehemalige Kinder des Heims auf und bestätigten die Geschehnisse. 2018, also vier Jahre danach, bitten dann die Evangelische Brüdergemeinde Korntal und ihre Diakonie die Opfer um Entschuldigung und liefern einen 400-seitigen Bericht ab. Bis Juni 2020 konnten sich die Betroffenen melden. Diese Frist wurde dann corona-bedingt verlängert. Sie erhalten von der Gemeinde zwischen 5000 und 20 000 Euro Entschädigung.
Zur Aufarbeitung in der Evangelischen Kirche äußert sich Detlev Zander regelmäßig und sehr kritisch. Im Netzwerk BetroffenenForum e.V. sagt er: „Problematisch in der EKD ist das schleppende Tempo in der Aufklärung und Aufarbeitung. Die EKD kommt immer mit der „Allzweckwaffe Föderalismus“ daher, um zu begründen, dass alles so lange dauert, weil alle Landeskirchen mitmachen müssen.“

Ausmaß in der evangelischen Kirche ist bis heute unklar

Das Ausmaß des von Missbrauch in der evangelischen Kirche ist bis heute unklar. Es sollen bis heute etwa 1.000 Opfer gemeldet haben. Dass die wahre Zahl der Opfer wesentlich höher ist, sieht auch die Universität Ulm, wenn sie auf evangelisch.de feststellt, dass von etwa 114.000 Betroffenen sexuellen Missbrauchs durch katholische Priester und noch einmal so vielen durch Pfarrer und Mitarbeiter in evangelischen Kirchen auszugehen sei.
Eine Studie, wie sie die katholische Kirche 2018 vorgelegt, fehlt bislang. Die Evangelische Kirche plant, bis 2023 dahin zu kommen.
Auch das Thema Entschädigungen ist, im Gegensatz zur katholischen Kirche, noch eine Baustelle. Eine Anlehnung an das staatliche Opfer-Entschädigungs-Gesetz, an dem sich die katholische Kirche orientiert, gibt es bei der Evangelischen Kirche derzeit nicht. Jede Landeskirche sei selbst dafür in ihren diskreten Verfahren zuständig schreibt Lilith Becker aus dem evangelischen Contentnetzwerk. Es gibt also viel zu tun.

Aufarbeitung von Missbrauch in der Diözese Rottenburg-Stuttgart: Unabhängiges Gremium noch nicht etabliert

In der Diözese Rottenburg-Stuttgart gibt es seit 2002 die von Bischof Fürst eingerichtete unabhängige Kommission sexueller Missbrauch (KSM). Wir berichteten darüber in dem Beitrag https://christus-koenig.eu/schweigen-oder-aussitzen-hilft-nicht-die-pressekonferenz-der-deutschen-bischoefe-zum-thema-missbrauch/.
Insgesamt hat die KSM wohl 168 Beschuldigte, darunter 97 Kirchenmänner, der Diözese Rottenburg-Stuttgart bis heute ausfindig gemacht wie die Stuttgarter Nachrichten am 16.3.2021 berichten.

Ist damit genug getan? Wohl nicht. Denn Köln hat ja auch gezeigt, dass es eines unabhängigen Gutachtens bedarf, um Sicherheit und Glaubwürdigkeit zu erlangen.

Hilfe bei Missbrauch: Logo unserer Diözese

Monika Stolz, ehemalige Arbeits- und Sozialministerin, leitet die Missbrauchs-Kommission der Diözese

Monika Stolz, ehemalige Arbeits- und Sozialministerin, leitet die Missbrauchs-Kommission der Diözese. Im Interview im Schwäbischen Tagblatt vom 1.3.2021 sagt sie auf die Frage nach einer unabhängigen Kommission für die Diözese: „Das ist für uns ein neues Gremium. Jedes Bistum muss eine Aufarbeitungskommission einrichten, die die Aufklärungsarbeit in den Diözesen bewertet. Dieses Gremium wird in Rottenburg-Stuttgart gerade auf den Weg gebracht.“
Auch wird in dem Interview die Frage nach der Nennung von Namen wie in Köln der Fall gestellt. Auch hier ist Monika Stolz klar, wenn sie sagt: „Ich gehe davon aus, dass die neue Aufarbeitungskommission Verantwortliche benennt. Das erwarte ich auch. Denn das ist wichtig für Glaubwürdigkeit und Transparenz. Jedem Bischof, jedem Personalverantwortlichen würde ich raten, zu seiner Verantwortung zu stehen.“

Sobald dieses von Monika Stolz erwähnte neue Gremium etabliert ist, soll ein Bericht auf dieser Seite folgen. Und die Erwartungen sind klar gesetzt: Eine unabhängige Untersuchung wie in Köln gestartet gilt es auch für unsere Diözese zu erarbeiten.

Wie weiter? Sich zur Vergangenheit bekennen und rasch aufklären

Fest steht: für Kinder und Jugendliche gibt es in unserer Gesellschaft Risikoräume für Missbrauch und Gewalt. Das können Vereine sein, aber auch das private Umfeld und, das ist besonders schmerzhaft, kirchliche Räume. Bei den kirchlichen Räumen in beiden großen Kirchen wohl gleichmäßig verteilt, gleichgültig ob Pflichtzölibat oder nicht.

Unabhängige Gutachten müssen folgen in allen Diözesen

Ohne eine adäquate Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs wird sich der Niedergang der Kirchen eher beschleunigen. Die Kirchen müssen sich zu ihrer Vergangenheit bekennen und Vergehen und Missbrauch mit aller Energie und Klarheit rasch aufklären (wollen). Nur so kann das verlorene Vertrauen wieder zurückgewonnen werden. Das Gute: Der Anfang ist gemacht. Die katholische Kirche hat inzwischen eine „Vorreiterrolle“ in der Aufarbeitung. Wichtig ist es, dem Beispiel Köln zu folgen. Unabhängige Gutachten müssen folgen in den Diözesen. Auch in unserer Diözese.

Wir leben in einer Zeit mit großen Verlusten. Dazu zählt der Verlust an Zusammenhalt in der Gesellschaft, dazu gehört die Individualisierung und Ichbezogenheit, auch der Absolutheitsanspruch der eigenen Meinung und die Akzeptanz von Inhalten ausschließlich innerhalb der eigenen Identitätsgruppe. Die Kirche hat hier die riesengroße Chance, einen großen Beitrag zu leisten, indem sie die Menschen wieder zusammenführt, ihnen einen Rückzugsort bietet und die Seele mit Leben auffüllt. Aber wie schon oben gesagt: Die Kirchen müssen reinen Tisch machen.

 

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