Von der Freiheit eines Christenmenschen – Teil 4

Prälat i.R. Paul Dieterich hielt am 31.10.2017 in Wannweil den Vortrag „Von der Freiheit eines Christenmenschen“. Unsere Kirchengemeinde hat ja im Jahr 2017 so Einiges für die Ökumene auf die Beine gestellt. Wir finden: Dieser Vortrag bildet einen würdigen Schlusspunkt. Wir haben daher Prälat Paul Dieterich um die Freigabe zur Veröffentlichung gebeten. Der Vortrag geht über mehrere Teile. In dieser Woche lesen Sie Teil 4.

von Paul Dieterich

Es geht darum, froh und frei zu leben

Doch zurück zu Luther und seiner Freiheitsschrift. Die entscheidende Befreiung von den Fesseln der Leistungsreligion findet er in Jesus Christus, in der Art, wie Jesus unsere Last und besonders das, was wir ihm und einander schuldig bleiben, auf sich nimmt und uns alles schenkt, was ihn ausmacht: Unschuld, Gerechtigkeit, Gnade, Barmherzigkeit, also all das, was wir uns und einander nur wünschen können, was aber weit jenseits dessen steht, was wir mit unserem Bemühen je erreichen. Er kleidet das in ein inniges Bild, das er aus der Mystik entlehnt: Christus als der Bräutigam, der sich mit einer jungen Frau verbindet, die eine wüste Vergangenheit hat und alles andere als ein unbeschriebenes Blatt ist. Der Bräutigam liebt sie innig und übt mit ihr völlige Güterteilung, ja er tauscht mit ihr sogar. Von ihr nimmt er alles, was als Last auf ihr liegt und was sie schuldig blieb. Und ihr gibt er alles, was das Leben schön und lebenswert macht, seine gesamte Unschuld und sein festliches Wesen. Wir dürfen uns in dieser Frau wiedererkennen, der er alles abnimmt, was gegen sie spricht, und der er alles gibt, was ihr Leben schön und reich macht. Er nennt dieses innige Geschehen den fröhlichen Wechsel und sieht darin die Quelle unseres Lebens als Christen.
Es geht dann nicht mehr darum, durch gute Werke unser Dasein vor Gott oder den Mitmenschen oder vor uns selbst zu rechtfertigen, sondern es geht nur noch darum, befreit von all diesen Zwängen, froh und frei zu leben, als sei unsere gesamte Vergangenheit mit all ihren Defiziten ausgelöscht und als würde unser Leben gerade erst beginnen. Wir sind dann Osterchristen, die an Ostern durch Christus und seine Ausstrahlung in seiner Nähe neu geboren wurden.
Ich weiß, dass es uns spätgeborenen Mitteleuropäern schwer fällt, das einfach so gelten zu lassen und anzunehmen. Wir sind alle durch die Schule des europäischen Individualismus gegangen. Sieht man die deutsche Philosophie, die unsere Mentalität geprägt hat, Kant, Fichte, Nietzsche, dann wundert man sich nicht, dass das Thema Stellvertretung uns fern ist. Uns hat man beizeiten gesagt „Selbst ist der Mann“ und manche Schwäbin ist stolz drauf, bis ins hohe Alter sagen zu können ,,1 be neamert nex schuldig“.

Unser Leben ist ein täglicher Neuanfang

Aber der Kern des christlichen Glaubens und Lebens ist – jedenfalls nach Luthers Auffassung – diese Stellvertretung: Christus nimmt uns ab, was uns entstellt und was wir ihm und anderen und uns selbst schuldig blieben. Und wir leben wie am ersten Tag in der Unschuld, die er uns gibt. Unser Leben ist ein täglicher Neuanfang, wir sind lebenslang Anfänger, Aller Leistungsdruck ist damit von uns genommen. Das ist die Quelle unserer Freiheit.
Das heißt nun ganz gewiss nicht, dass wir uns faul auf die Bärenhaut legen. Und das heißt nicht, dass wir drauf los sündigen nach dem Motto, das Spötter schon damals Luther angedichtet haben: „Ich zech auf Christi Kreide“.
Nicht umsonst hat Luther neben den Satz „Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge“ den anderen gestellt: „Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan in der Liebe“. Wobei wir derzeit daran gut tun, das Wort „jedermann“ zu unterstreichen und ganz wörtlich zu nehmen.

Gerade wenn ich weiß, dass ich mit oder ohne meine Leistung von Gott rückhaltlos geliebt bin, gerade dann bekomme ich Lust, die Gaben und Kräfte, die er mir gegeben hat, für andere einzusetzen. Ich freue mich, dass er mich brauchen kann und ich lasse mich von ihm gern gebrauchen. Er tut unendlich viel Gutes, auch durch mich. Und ich darf mittun.
Das lutherische Arbeitsethos geht immer davon aus, dass wir aus purer Dankbarkeit, dass Gott uns liebt und an uns seine Freude hat, arbeiten. Nicht etwa, um uns selbst zu verwirklichen. Haben Sie einmal über den Begriff „sich selbst verwirklichen“, der heute viel gebraucht wird, nachgedacht? Wer zu seiner Selbstverwirklichung arbeitet, rechnet doch offenbar damit, dass er gar nicht wirklich existiert. Wenn er Christ ist, geht er davon aus, dass Gott ihn gar nicht wirklich geschaffen hat. Er will wirklich werden durch das, was er tut. Er will sich selbst verwirklichen. Er will sein eigener Schöpfer sein. Streng genommen ist das ein ganz unsinniges Unterfangen. Das kann ja nur in der völligen Depression enden. Denn wann wird der Mensch, der dafür arbeitet, sich auf die Schulter klopfen und sich sagen, dass er nun wirklich wirklich ist? Wieviel freier ist der Mensch, der arbeitet aus purer Dankbarkeit dafür, dass Gott ihn brauchen kann!

Die Berufsarbeit erhielt durch das lutherische Arbeits- und Berufsethos einen enormen Antrieb

Die Berufsarbeit hat durch das lutherische Arbeits- und Berufsethos einen enormen Antrieb erhalten. Die Arbeit im Beruf und ebenso die der Hausfrau und Mutter, natürlich auch die Arbeit der ledigen Frau, ist Gottesdienst. Das heißt: Gott dient durch deine Arbeit im Beruf anderen Menschen und hilft ihnen im weitesten Sinn zum Leben. Luther hat die Arbeit im weltlichen Beruf enorm aufgewertet. Vor ihr war ihr der Stand der Priester und Mönche weit übergeordnet. Jetzt finden sich Pfarrer und Bäcker, Schneider und Handwerker auf gleicher Ebene wieder.

Freilich war das Kriterium echter Arbeit für Luther sogenannte „ehrliche Arbeit“, wobei der Begriff nicht sagen will, wie ehrlich einer in seiner Arbeit ist, sondern „ehrliche Arbeit“ ist die Berufsarbeit, die im weitesten Sinn Menschen hilft, sich ihres Lebens zu freuen, Arbeit, die dem Leben dient. Beim Bäcker und Arzt, beim Lehrer und Koch, beim Automechaniker und bei der Hausfrau, bei der Pflegerin und beim Frisör ist es gar keine Frage, dass hier ehrliche Arbeit geschieht, dass also Gott durch solche Berufe dem Leben der Menschen dient. Knifflig wird es erst, wenn wir über Berufe reden, in denen die Frage, ob dieser Beruf zum Leben dient, gestellt werden kann. Wenn wir im Religionsunterricht das lutherische Arbeitsethos besprochen haben, dann ließ ich meine Schülerinnen und Schüler in der Klassenarbeit darüber diskutieren, ob z.B. der Chef eines Spielkasinos, ob der Waffenfabrikant, ob die lutherische Bardame im Sinne Luthers „ehrliche Arbeit“ tut. Die Gedanken der Schülerinnen und Schüler dazu waren oft recht interessant.

Gott dient durch uns anderen, die in höchsten Nöten sind

Gottesdienst im Sinne Luthers ist natürlich auch die Arbeit, die ein Mensch außerhalb seines Berufes an Menschen tut, die diesen Dienst zum Leben brauchen. Wenn wir im Nothilfeverein alle vier Wochen etwa 30 bis 60 Hilfsbitten von Menschen, die in höchste Nöte kamen, bearbeiten und wenn wir das Jahr über das Geld zusammenbetteln, das wir ihnen dann als Hilfe zur Selbsthilfe geben, dann ist das Gottesdienst. Gott dient durch uns anderen, die in höchsten Nöten sind. Und selbstverständlich gilt das für jede diakonische Tätigkeit, etwa an behinderten Jugendlichen oder an strafentlassenen Menschen, an Wohnsitzlosen oder an alten Menschen im Altenheim. Das macht die Würde all dieser Tätigkeiten aus, dass Gott selbst diese Arbeit tut und dass er uns mit unserer Arbeit hier brauchen kann. Wie kümmerlich ist da die Begründung: Wir tun das, um unsere Existenz zu rechtfertigen. Und wie sehr ist der Mensch, der mit dieser Motivation Gutes tut, hin- und hergeworfen von seinen Zweifeln. Wann kann er denn sagen, dass er jetzt seine Existenz gerechtfertigt hat? Wie sehr ist er da von seinen täglichen Stimmungen und von der Frage, ob andere ihm dankbar sind und ihn bestätigen, abhängig. Und wie frei und sattelfest ist der Mensch, der weiß: Gott selbst hilft durch meine Arbeit anderen zum Leben. Ob diese anderen das auch so sehen oder nicht, ob sie nun dankbar sind oder nur schwierig, es gilt, Gott selbst ist am Werk und ich darf mittun.
Und ganz gewiss ist die Arbeit an Menschen, die ich bis vor kurzem noch nicht kannte und die aus ganz anderen Kulturkreisen religiösen Kulturen kommen, Gottesdienst. Schon aus diesem Grund werden Christen, die wie Luther denken, sich wenig von der Furcht der Überforderung bestimmen lassen. Sie werden vielmehr tun, was ihnen möglich ist. Und sie werden immer damit rechnen, dass Gott außer uns Millionen von Menschen hat, mit denen er das tun kann, was wir nicht fertig bringen. Und noch Millionen andere, denen es in ihrer Untätigkeit unendlich langweilig ist und die er noch mobilisieren kann. Er kann ja sich aus Steinen Kinder erwecken. Schon aus diesem Grund können wir nicht genug einander in diesem Tun bestärken und Mut machen.

Aber der Gott, an den wir glauben, will nicht, dass wir uns kaputt arbeiten

Wenn wir wie Luther über unser Tun und Lassen nachdenken, dann werden wir auch die Freiheit haben, dann, wenn wir überlastet sind, das zu sagen und dazu zu stehen. Nicht so, dass ich unbewusst davon ausgehe, dass wenn ich meine Grenzen. spüre, andere auch an ihren Grenzen angelangt sein müssten. Aber der Gott, an den wir glauben und der uns in seinem Tun brauchen kann, will nicht, dass wir uns kaputt arbeiten. Luther war kein ethischer Idealist, der im Grunde Helden der Arbeit kennt und Märtyrer der Arbeit verehrt. Vielleicht hätte er sogar unterschrieben, was Jürgen Moltmann kürzlich in seiner Ethik der Hoffnung geschrieben hat, dass es sogar unsittlich sei, von Menschen mehr zu erwarten, als sie leisten können. So gewiss uns Luther Mut macht, uns mit allen Gaben und Kräften dem Gott, der uns brauchen kann, zur Verfügung zu stellen, so gewiss hat der Realist Luther um unsere Hinfälligkeit und unsere Grenzen gewusst. Wenn einmal die Auffassung ausgetrieben ist, wir müssten mit unseren guten Taten unsere Existenz rechtfertigen, dann kann der Realist viel freier auch die Grenzen unseres Tuns sehen. Und es ist keine Ausflucht des Faulen, wenn wir zu diesen Grenzen stehen, sondern die Folge des Zutrauens zu dem Gott, der auf uns nicht angewiesen ist und der außer uns Ungezählte hat, deren Eifer er aktivieren kann. Auch zum Erkennen unserer Grenzen gibt uns christlicher Glaube im Sinne Luthers die Freiheit.

Paul Dieterich, Prälat i.R.

Der Autor: Prälat im Ruhestand. Man könnte auch sagen im Unruhestand.  Seine letzte Station vor seinem Ruhestand war sieben Jahre lang die Prälatur Heilbronn und in der Verantwortung von 580.000 evangelischen Christen in 15 Kirchenbezirken. Paul Dieterich ist bekannt als exzellenter Prediger, hält Vorträge und engagiert sich nach wie vor ehrenamtlich.

Im 5. und letzten Teil wird es noch mal richtig politisch und kritisch. Das lesen Sie dann in der Woche vom 12. Februar 2018.

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