Missbrauch in der evangelischen Kirche – Zusammenfassung der ForuM-Studie

Am 25.1.2024 veröffentliche der Forschungsverbund ForuM („Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland (ForuM)“ die Studie um sexuellen Missbrauch in der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD). Der Umfang: 871 Seiten! Es ist die erste unabhängige Studie zu diesem Thema in der evangelischen Kirche und sie kommt spät wie die Forscher sagen. Das Ergebnis ist erschreckend und es zeigt mehr Opfer als erwartet. Die Prüfer äußern sich auch klar zur restriktiven Art und Weise der Kirchenführung, Daten zur Verfügung zu stellen.

Von Rainer Degen

Die Zahlen: nur „Spitze des Eisbergs“

Die Prüfer sprechen von der „Spitze der Spitze“ des Eisbergs. Die Prüfer vergleichen ihre Studie mit der MHG-Studie der katholischen Kirche. Diese basierte seinerzeit auf Personalakten von katholischen Pfarrern. Hier noch mal die Datenlage der MHG-Studie: es wurden seit 2011 Personal- und Handakten von 38.156 Klerikern der 27 Diözesen aus den Jahren 1946 bis 2014 gesichtet. Dabei fanden sich bei 1.670 Klerikern Hinweise auf Beschuldigungen des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger. 3.677 Kinder und Jugendliche konnten als von sexuellem Missbrauch betroffen zugeordnet werden.

Für die aktuelle ForuM-Studie in der EKD hatte man eine wesentliche kleinere Datenbasis zur Verfügung, nämlich nur 4.282 Disziplinarakten, 780 Personalakten sowie 1.318 weitere Unterlagen. Die Gesamtsicht ergab insgesamt 1.259 Beschuldigte in 2.225 Fällen von Missbrauch. Innerhalb der Beschuldigten waren 511 Pfarrer.

Das durchschnittliche Alter der Betroffenen aus den Fällen der Landeskirchen betrug 11,7 Jahre, das der Diakonischen Werke 11,1 Jahre. Bei den Disziplinarverfahren ergab sich ein etwas höheres Durchschnittsalter der Betroffenen von 13,4 Jahren. Über alle Teilstichproben waren die Betroffenen unter 14 Jahre alt so die Forscher.

Bei den Tätern und Täterinnen in der evangelischen Kirche war die Mehrheit männlich und verheiratet. Das Durchschnittsalter betrug in den bekannten Fällen 39,6 Jahre und in den Fällen aus Disziplinarverfahren 42,7 Jahre erklären die Forscher weiter. Wichtig ist noch festzuhalten, dass die Taten „in den meisten Fällen geplant“ waren.

Diejenige Gruppe, gegen die die meisten Beschuldigungen erhoben wurden, waren männliche evangelische Pfarrer.

Um die Datenbasis schon jetzt etwas stärker abzusichern und eine grobe Vorstellung auf die Gesamtmenge zu entwickeln, führte man zusätzlich als Teil der Studie eine detailliertere Untersuchung in einer Landeskirche durch. In dieser exemplarisch durchgeführten Personalaktenanalyse von Pfarrpersonen fanden die Prüfer heraus, dass etwa 60 % der Beschuldigten und 75 % der Betroffenen zusätzlich zu den zur Verfügung gestellten Akten erfasst werden konnten.

Anhand der Datenlage darf also davon ausgegangen werden, dass der Missbrauch in der Evangelischen Kirche den der katholischen Kirche wohl übertrifft. Nicht falsch verstehen: Es geht nicht um Aufwiegen von Schuld. Aber die Prüfer fordern konsequenterweise, dass der Zugang zu den Personalakten aller Pfarrpersonen in allen Landeskirchen ermöglicht wird und als Folge es „zu einer transparenten und vollständigen Aufarbeitung“ kommt.

Sexualisierte Gewalt wird als systemisches Problem der katholischen Kirche beschrieben

Die Überzeugung, dass es in der EKD einen ähnlichen Umfang von Missbrauch durch Machtmissbrauch und struktureller Gewalt wie in der katholischen Kirche nicht gäbe, kann nicht aufrecht erhalten werden. In Gesprächen mit evangelischen Mit-Christen schimmerte hier und da so etwas wie eine moralische Überlegenheit durch sowie dass es am System der katholischen Kirche liege. Gründe wie Zölibat, Sexualverständnis und hierarchische Struktur wurden genannt.

So schildern auch die Prüfer, dass sexualisierte Gewalt als ein systemisches Problem der katholischen Kirche gesehen werde. Das Selbstbild der EKD empfinde man besonders in Abgrenzung zur katholischen Kirche als grundlegend partizipativ, hierarchiearm und progressiv.

Betroffene beschrieben in den Interviews eine positive Außenwahrnehmung der evangelischen Kirche. Gerade dieses nach außen gezeigte partizipative und progressive Image förderte wohl aber auch sexualisierte Gewalt und schützte Beschuldigte. Evangelische Räume würden als sicher und gewaltfrei betrachtet. „Sowohl die Gesellschaft als auch das Umfeld Betroffener (z. B. deren Eltern) sowie Betroffene selbst (anfänglich) seien davon ausgegangen, dass Menschen im Allgemeinen und speziell Kinder und Jugendliche in evangelischen Räumen sicher aufgehoben seien“. In diesem Selbstverständnis besteht möglicherweise in evangelischen Räumen zu wenig Schutz und es wird bei Vorkommnissen sexualisierter Gewalt zu wenig hingeschaut.

Weitere Aussagen von Betroffenen als auch Kirchenvertretern sprechen aber auch „von einer Diskrepanz zwischen einem idealisierten Selbstverständnis und tatsächlichen Strukturen beziehungsweise Handlungspraxen. Werden Machtungleichheiten thematisiert, werden diese als unvermeidbare Konsequenz machtvoller Verwaltungsstrukturen in der evangelischen Kirche beschrieben“. Kirchenvertreter tendierten eher zu „einer Partizipationsform, in der Entscheidungsmacht bei den Verantwortlichen der Institution verbleibt“.

Dabei kritisieren die Prüfer in welcher Art Äußerungen unterschiedlich eingeordnet werden, bevorzugt werden sie dann wenn sie einer kirchenimmanenten Logik entsprechen und für die Institution gut verwertbar sind. „Als nicht produktiv werden Äußerungen gedeutet, die mit den Interessen der Institution im Konflikt zu stehen scheinen. Diese werden auch als partizipationsgefährdend und -verhindernd beschrieben. … Wird sich dieser Anforderung entzogen, kann Abwertung und Aberkennung einer legitimen Beteiligung drohen“.

Verkopplung von Schuld und Vergebung

Im Kontext der evangelischen Rechtfertigungslehre, so die Prüfer, gelte die Annahme
eines scheinbaren Automatismus von Schuld und Vergebung/Gnade. Es komme zu einer Verkopplung von Schuld und Vergebung: Reue findet nicht statt. Die Opfer konfrontiere man nach Vergebung der sexualisierten Gewalt. Zu diesem Zeitpunkt gab es aber noch keine Auseinandersetzung mit der Schuld stellen die Prüfer fest.

„Obwohl es innerhalb der evangelischen Kirche durchaus disziplinarrechtliche Aktivitäten bezüglich Tätern und Täterinnen gibt und die Synoden sich damit intensiv beschäftigen, wird an zentralen Stellen die Möglichkeit diskutiert, Täter:innen zu vergeben, um sie in die evangelische Kirche zu reintegrieren. Auch hier inszeniert sich die evangelische Kirche als die Helferin, die den Täter:innen Zugang zu ihrer Vergangenheit ermöglicht, indem sie diese über die Taten sprechen lässt“. Im Vordergrund „des institutionellen wie organisationalen Handelns dient eher einer Beruhigung der Situation“. Es dominiere auf institutioneller Seite, das die thematisierte Gewalt relativiert oder für gegenstandslos erklärt wird.

So fanden trotz zeitnaher Offenlegung die Betroffenen nicht die angemessene Unterstützung. „Ein Großteil der Kinder und Jugendlichen, die sich zeitnah Dritten anvertraut hatten, stieß auf abwehrende Reaktionen, die die Angst der Kinder und Jugendlichen vor negativen Konsequenzen erhöhten. Dies hatte in vielen Fällen ein jahrzehntelanges Schweigen aufseiten der Betroffenen zur Folge. Andere schilderten körperliche und/oder psychische Zusammenbrüche, die professionelle Hilfen nötig machten“.

Und weiter: „Meldungen sexualisierter Gewalt und damit verbundene Verfahrensabläufe scheinen der Deutungshoheit der Institution zu unterliegen, sodass individuelle Bemühungen um Unterstützung Betroffener durch kirchliche Vertreter:innen strukturell absorbiert, das heißt häufig intransparenten Verfahrenszwängen (z. B. Disziplinarverfahren, Konfrontation mit dem:der Beschuldigten usw.) unterworfen werden. Betroffenen wird damit jene Handlungsmacht abgesprochen und verwehrt, die zugleich mit dem Konzept der Partizipation eingefordert wird“. Institutionelle Akteure und Gemeindemitglieder unterlegten „ihren Deutungen die Annahme eines scheinbaren Automatismus von Schuld und Vergebung/Gnade“. Täter wurden also in gewissem Maße geschützt.

Späte Thematisierung – für viele Opfer wohl zu spät

Die Prüfer sprechen von einer „historisch verspäteten Auseinandersetzung“ und stellen fest: „… aus der Diskursanalyse der Verlautbarungen der evangelischen Kirche ergibt sich, dass insbesondere vor 2018 sexualisierte Gewalt nicht als eigenes Thema der evangelischen Kirche aufgegriffen wurde; auch danach geschah das oftmals nur verhalten und selektiv.
Ab 2018 geraten die spezifische Betroffenheit und die institutionelle Verantwortung der evangelischen Kirche vermehrt in den Blick. Dabei beschreibt die evangelische Kirche ihre eigene Schuld, insbesondere mit dem Verweis darauf, dass man dem eigenen Anspruch, einen Schutzraum zu bieten, nicht gerecht geworden ist“. Für viele Opfer wohl zu spät.
An dieser Stelle sei daran erinnert, dass der häufig gescholtene Ex-Bischof Gebhard Fürst schon 2002 die unabhängige Kommission sexueller Missbrauch (KsM) gründete.

Prävention und Intervention

Auch kein gutes Zeugnis stellen die Prüfer der EKD aus, wenn es um Prävention geht. Die Selbstberichte der Landeskirchen im Rahmen der Fragebögen fassen die Prüfer wie folgt zusammen: die Umsetzung von Präventionsbemühungen sind eines der zentralen Probleme. Auch finden die Prüfer, dass sich die Landeskirchen auch hier sehr spät dem Thema gewidmet haben. „So wurden erst relativ spät, teilweise erst ab 2021, Stabstellen für Prävention oder andere Strukturen geschaffen, die sich in den Landeskirchen mit diesem Thema beschäftigen“. Gerade hier seien aber die Erwartungen der Betroffenen besonders hoch.

Hinsichtlich der Intervention, also strukturierte und konkrete Verfahrensschritte bei Vorkommnissen sexualisierter Gewalt, bezeichnen die Prüfer die untersuchten bisherigen Interventionsbemühungen in Fällen sexualisierter Gewalt in den Landeskirchen als „unzureichend und nicht betroffenenorientiert“. So fehlten etwas Standards hinsichtlich der Dokumentation, des Datenschutzes und der Bearbeitungsverfahren.

Siehe dazu auch den Beitrag auf unsere Homepage: Missbrauch: Katholische Kirche klärt auf und sieht Prävention als Schlüssel

Folgen für die christlichen Kirchen in Deutschland

Die Studie ist klar und kompromisslos in der Darstellung. Als Leser ist man verwundert über die Härte der Beurteilung und die Fülle von niederschmetternden Anklagen durch die Prüfer. Für die Kirchen in Deutschland in der aktuellen Situation ist das ein weiterer Tiefschlag und die evangelische Kirche hat den christlichen Kirchen in Deutschland mit dem langen Zögern einen Bärendienst erwiesen. Möglicherweise erleben wir eine neue Austrittswelle, die auch nicht nur die evangelische sondern auch die katholische Kirche wieder mit erfassen kann. Jetzt könnte der Satz kommen, dass die evangelische Kirche jetzt rasch mit dem Aufräumen beginnt. Aber man kennt das schon: das Bedauern und der Aufschrei bei Fehlleistungen ist zu Beginn eines Skandals riesig. Danach geht es wieder in die bekannten Trampelpfade. Schauen wir mal, ob die evangelische Kirche das aber als Chance begreift.

2 Gedanken zu „Missbrauch in der evangelischen Kirche – Zusammenfassung der ForuM-Studie

  1. Lieber Michael,
    da kann ich Dir nur zustimmen.
    Ich war heute beim Literaturgottesdienst in der Katharinenkirche Reutlingen. Prälat i. R. Dr. Christian Rose hielt zum Buch „Ein ganzes Leben“ von Seetaler die Predigt.
    Seine ersten erschütterten Worte nach der Begrüßung richteten sich auf die Missbrauchs-Ergebnisse in der ev. Kirche. Er entschuldigte sich für die Vergehen seiner Kirche, für die er sich schäme.
    Auch für mich ist es unvorstellbar, was da in beiden Kirchen im großen Stil passiert ist. Dabei ging es nicht nur um sexuellen Missbrauch, sondern auch um brutale Gewalt, mit der Kinder und Erwachsene gebrochen und misshandelt wurden. Dieses Ergebnis sollte auf keinen Fall von katholischer Seite zum Anlass genommen werden, die evangelische Missbrauchsstudie mit Häme zu betrachten.
    Meiner Überzeugung nach sind die Strukturen in der Kirche ein Nährboden für solche Vergehen. Die Hierarchie und die klerikale Überhöhung erleichterten und erleichtern den Verbrechern ihr Vergehen. Aber genauso schändlich ist der Umgang der Verantwortlichen mit dem Missbrauch. Auch heute wird noch vertuscht, um das Ansehen der Kirche zu schützen. Übrigens ein für Institutionen jeglicher Art (auch Vereine u.ä.) typisches Vorgehen, nur sehr viel schwerer wiegend bei christlichen Kirchen mit ihrem Auftrag und Selbstverständnis.
    Nur massivstem Aufstand in der Öffentlichkeit ist es zu verdanken, dass in vielen Diözesen (auch in unserer Diözese Rottenburg/Stuttgart) ein Umdenken stattfand und ernsthaft aufgearbeitet wird.

    Dein Gedanke über das Vergeben hat mich sehr beeindruckt. Vergebung tut gut, das erfahren wir immer wieder. Das tut dem gut der vergibt und jenem, dem vergeben wird. Aber was passiert, wenn die Vergebung im Sinne Jesu dazu führt, dass Priester, die missbraucht haben, sich selber vergeben können und weitermachen. Das fände ich, und da schließe ich mich Dir gerne an, ein spannendes Thema in einer größeren Runde.

  2. Das Ausmaß des Missbrauchs in allen christlichen Kirchen ist erschütternd und es befällt einen das Grauen, wenn man daran denkt, dass dieser Sumpf die ganze Zeit unter unseren Füßen war, als wir arglos nach Gott und dem Guten in der Welt gesucht haben. Indem die Autoren den Blick auf die Verkopplung von Schuld und Vergebung richten, tut sich aber womöglich noch ein anderer Abgrund auf: haben die christlichen Kirchen vielleicht ein strukturelles Problem, einen Webfehler sozusagen? Im Vaterunser beten wir, dass Gott uns unsere Schuld vergeben möge. Wie viele der Täter haben das zum Anlass genommen, sich selbst zu vergeben – und grad so weiterzumachen? Wie geht die Institution Kirche mit der Vollmacht Jesu um, Sünden zu vergeben, wenn diejenigen, die die Sünden vergeben, selbst zu den Tätern gehören oder denen es jedenfalls darum geht, die Institution nicht zu beschädigen? Wir hören gern, dass Jesus zur unermüdlichen Vergebung aufruft (Mt. 18, 21-35). Aber führt es auch zum richtigen Verständnis? Ich meine, hierüber sollten wir uns dringend Gedanken machen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.